„Herr Knecht, Herr Knecht!“ Die Tür des Kontors flog mit einem lauten Knall an die Wand und in dem eben noch stillen Büro stand ein blonder Junge, sichtlich außer Atem. Suchend blickte er sich in dem großen Büro um.
„Na, na, nicht ganz so stürmisch, junger Mann!“ Das Gesicht des Jungen hellte sich auf, als er den Lederfabrikanten Johann Knecht hinter dem großen Eichenschreibtisch erblickte.
„Frau Knecht sagt, ich soll Ihnen diesen Brief ganz schnell bringen. Also, schneller ging nicht.“ Johann Knecht seufzte. „ Na, dann zeig mal her, was du da so Dringendes hast.“Der Junge rührte
sich nicht. Er hatte ganz offensichtlich noch etwas auf dem Herzen.
„Ihre Frau hat gesagt, wenn ich mich beeile, darf ich vielleicht die Briefmarken behalten. Guck mal! United States of America, die hat noch keiner.“
Johann Knecht nahm dem Jungen den Umschlag aus der verschwitzten Hand. „Danke, Junge! Ich darf wohl erstmal schauen, was das ist, bevor wir es aufteilen, oder?“
Johann Knecht griff in die rechte obere Schublade seines Schreibtisches und reichte dem Jungen ein paar Münzen. „Hier hast du zwei Groschen. Die Marken kriegst du schon noch, und nun ab mit dir!“
Hinter dem Jungen tauchte eine junge Frau mit roten Wangen auf. „Entschuldigen Sie bitte, Herr Knecht. Da hatte es jemand sehr eilig. Der Spitzbube hier ist wie ein geölter Blitz durchgesaust.“
Die Vorzimmerdame führte den kleinen Störenfried an den Schultern hinaus und schloss die Tür zum Büro des Firmenchefs wieder.
Johann Knecht blickte auf den Umschlag. Als Absenderin war auf der Rückseite Johanna Pingel angegeben. Sollte das nach all den Jahren etwa eine Nachricht über den Verbleib von Elsa Pingel, Witwe
von Paul Pingel, sein? Das war doch bestimmt schon 20 Jahre her.
Paul Pingel war nicht der erste Gerber aus Elmshorn gewesen, der sich bei seiner Arbeit mit Milzbrandbakterien infiziert hatte, aber es war der erste Fall dieser schweren Erkrankung in der Firma
Knecht und Söhne.
Paul war einer der schnellsten und erfahrensten Arbeiter an der Enthaarungsmaschine gewesen. Wie die meisten Gerber trug er leider nicht die empfohlenen Schutzhandschuhe. Die Arbeit war mühsam
und schwer und wurde mit den groben Handschuhen noch beschwerlicher. Als sich die Wunde an der rechten Hand entzündete, war allen klar, dass Paul es nicht überleben würde. Für Johann Knecht, der
Paul als einen seiner zuverlässigsten Arbeiter sehr geschätzt hatte, war es
selbstverständlich gewesen, die schwangere Witwe Elsa Pingel, wo er konnte, zu unterstützen. Für die Zeit der Wohnungsdesinfektion hatte er ihr und ihren Söhnen eine Wohnung in der Gärtnerstraße
überlassen. Er hatte ihr sogar angeboten, für diese Zeit in der Knechtschen Villa auf Kaltenweide zu wohnen. Aber Elsa wollte nicht zu den Eheleuten Knecht. Verstört und wütend hatte sie Johann
Knecht höchstpersönlich die Schuld an Pauls Tod gegeben. In ihrem Zorn hatte sie ihn angeschrien, ihm und allen anderen Gerbern sei es doch egal, wie es jetzt in Elmshorn stinke, wie verseucht
die Krückau sei und wie viele Arbeiter wegen der verfluchten Chinafelle stürben.
Als Elsa dann trotz ihrer Schwangerschaft mit den beiden Söhnen Elmshorn und Deutschland verlassen wollte, hatte Johann Knecht einen Kontakt zu Albert Ballin in Hamburg hergestellt. Er fand, das
war er Paul als einem Mitarbeiter der ersten Stunde irgendwie schuldig.
Jetzt schnitt er mit einem silbernen Brieföffner den Umschlag auf. Darin befanden sich eine kleine Karte und ein Brief. Zuerst las er die kleine Karte. Darauf stand in einer schönen,
geschwungenen
Handschrift:
Cooperstown, January, 15, 1930
Sehr geehrter Herr Knecht,
Sie mich nicht kenen. Ich mich an Sie wenden, weil in die Sachen von meiner Mutter ich einen Brif gefunden, der für sie sein. Ich nicht verstehen, warum Brif nicht abgeschickt. Meine Mutter ist
gestorben. Sie immer gut geredet von Sie. Bitte entschuldigen Sie mein schlechtes Deutsch.
Meine Brüder Hans und Albert lasen grüßen. Sie auch nicht meer so gut in Deutsch schreiben.
Sincerely yours
Johanna Pingel
Dann nahm Johann Knecht den auf dünnem, einfachem Papier geschriebenen Brief.
Cooperstown, den 12.08.1915
Sehr geehrter Herr Knecht,
ich hoffe, dass dieser Brief Sie bei bester Gesundheit erreicht. Lange ist es her, dass ich Elmshorn verlassen habe. Inzwischen bedauere ich sehr, dass ich Ihnen so ungerechte Vorwürfe gemacht
habe.
Ich habe hier eine gute Anstellung gefunden. Meine zweijährige Tochter darf ich mit zur Arbeit nehmen und Hans und Albert können mit Gartenarbeit etwas dazuverdienen. Die beiden sprechen die
Sprache inzwischen recht gut und werden sicherlich ihren Weg machen.
Ein ganz klein wenig Heimweh habe ich schon ab und an nach Hainholz, aber ich denke, so wie es ist, ist es gut. Bitte richten Sie Ihrer lieben Frau einen herzlichen Gruß aus und seien Sie mir
nicht bös, dass ich so voller Zorn gegangen bin. Ich bin Ihnen und Ihrer Frau für
mich und vor allem für meine drei Kinder von Herzen dankbar und wünsche Ihnen und Ihrer Familie und der Lederfabrik Knecht, die man auch hier in Amerika kennt und schätzt, von Herzen alles Gute.
Herzliche Grüße
Elsa Pingel
Johann Knecht faltete den Brief zusammen und verließ das Büro. Er würde seine Frau Berta jetzt zu Hause abholen und dann würden sie einen Kaffee bei Schrader trinken gehen. Heute war ein guter
Tag.
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